Molekularkochen – was bringt’s?

Stand: 05/04/2022
Kochen ist ein spannender Prozess. Beim Mischen, Erhitzen oder Abkühlen von Lebensmitteln finden auf molekularer Ebene, also auf Ebene der kleinsten Teilchen, zahlreiche chemische und physikalische Vorgänge statt. Diese Vorgänge werden beim Molekularkochen wissenschaftlich untersucht. Das „wissenschaftliche Kochen“ strebt ein allgemeines Verständnis für das Zubereiten von Speisen und für das Optimieren des Zubereitungsprozesses an.
Der Begriff der „Molekulargastronomie“ oder „Molekularküche“ wird auf Hervé This ins Jahr 1990 zurückgeführt. Einer der herausragenden Molekular-Gastronomen ist der Spanier Ferran Adrià, der sein renommiertes Restaurants El Bulli 2011 geschlossen hatte. 2021 eröffnete er eine Art Experimentierküche. Und schenkt man dem Mainzer Molekular-Koch und Physiker Thomas Vilgis Vertrauen, dann ist Molekularkochen ohnehin das grundlegende, spannende Phänomen in der Nahrungsmittelbearbeitung und die Molekularküche entsprechend dem heutigen Verständnis die praktische Anwendung und ein Teilbereich des Molekularkochens. Fortlaufend bringt er Literatur heraus. Im April 2022 veröffentlicht er ein Werk mit ungewöhnlichen Rezepten für besondere Geschmackserfahrungen.


Molekularkochen – praktischer Nutzen für die Lebensmittelzubereitung

Dies soll anhand eines Beispiels kurz aufgezeigt werden.
Was passiert auf molekularer Ebene, wenn ein Stück Fleisch gebraten wird?

Durch die Temperaturerhöhung beim Braten verändern sich die Proteinmoleküle (Eiweißmoleküle) im Fleisch. Man sagt, sie denaturieren. Die Eiweißmoleküle verändern ihre natürliche Gestalt und verändern dadurch auch ihre Eigenschaften. Das können wir sehr gut wahrnehmen, weil sich das rohe Fleisch anders anfühlt als das durcherhitzte, man kann es anders beißen. Das ist einerseits ein banales Phänomen, andererseits - auf molekularer Ebene erklärt - passiert etwas Mechanisches: Die im ungegarten Zustand globulär (verknäuelt) vorliegenden Eiweißkörper entfalten sich durch die Temperaturerhöhung zu Fäden. Man sagt, die Textur verändert sich. Wenn die Proteine nur bis zur „Entknäuelung“ erhitzt werden, behalten sie die Wasserbindefähigkeit (bei Rindfleisch z. B. bei Kerntemperatur 58 °C) und das Fleisch bleibt saftig. Steigt die Temperatur dagegen weiter an, so vernetzen die Eiweißfäden und das Fleisch wird zäh.

Allgemein lassen sich verschiedene Anwendungen des Molekularkochens ableiten:
Wenn man versteht, wie ein Prozess auf molekularer Ebene abläuft, ...
  • kann dieser Prozess auf andere Zubereitungsarten übertragen werden.
  • kann der Prozess besser gesteuert werden, so dass bessere Resultate erzielt werden.
  • kann aufgrund der molekularen Kenntnisse der Geschmack optimiert werden.


Dazu einzelne Erläuterungen und Beispiele:

Das Geheimnis schmackhafter Salatmarinaden

Wasser und Öl, zwei Grundzutaten in der Küche, passen nicht zusammen, sie lassen sich nicht miteinander vermischen. Doch ist das gleichzeitige Auftreten unterschiedlicher Geschmacksträger erwünscht, weil verschiedenartige Komponenten unterschiedliche Geschmackseindrücke auslösen. So versucht man Wasser und Öl so fein verteilt zusammen zu bringen, dass die Geschmackspapillen der Zunge die Speisenzutat als eine Einheit wahrnehmen und ein gutes Mundgefühl (Mouthfeeling) hervorrufen. Solch fein verteilte Wasser-Öl-Gemische nennt man Emulsionen. Bekanntestes Beispiel ist die Mayonnaise. Mechanisches Schlagen sorgt hier für die Feinstverteilung der Öltröpfchen in Wasser. Das Einschlagen von Eigelb stabilisiert die Emulsion. Und zwar wirkt das Lezithin des Eigelbs als so genannter Emulgator. Lezithin hat einen wasserlöslichen (hydrophilen) Teil und einen wasserabweisenden (hydrophoben) Teil. Mit dem wasserlöslichen Teil wendet sich Lezithin dem Wasser und mit dem wasserabweisenden, fettlöslichen Teil dem Öl zu. Es wirkt so als Vermittler zwischen zwei unvermischbaren Komponenten.

Auch Senföle können Emulsionen stabilisieren. Deshalb verbessert die Zugabe von Senf zur Salatmarinade sowohl den Geschmack als auch das Mundgefühl (siehe oben) der Marinade.

Ein weiterer Trick ist, Salz (Natriumchlorid = NaCl) in den Essig zu geben, bevor das Öl zugefügt wird. Dann kann sich NaCl gut in Natrium- und Chlorid-Ionen lösen. Dagegen lösen sich die ätherischen Öle der klein geschnittenen Kräuter im Öl der Salatmarinade. Eine solch gezielte Zugabe einzelner Zutaten in die Komponenten Essig (Wasser) bzw. Öl wirkt geschmacksverstärkend.


Die Tücken der Nährstoffmoleküle – Wie gelingt ein saftiges Stück Fleisch oder Nudeln al dente

Ein zartes Steak ist so manchen Feinschmeckers „liebes Kind“. Molekulare Kenntnisse erleichtern die Küchenpraxis:
Wird ein Fleischstück in die heiße Pfanne gelegt, so entfalten sich unter der zugeführten Wärmeenergie zunächst die schützenden Kollagenfasern. Bei weiterer Energiezufuhr bilden die Kollagene mehr und mehr ein Netzwerk. Zunächst werden die inneren Muskelproteine nur mit gemäßigten Temperaturen konfrontiert, so dass sich die Eiweißknäuel zu Fäden entfalten und die Wasserbindefähigkeit behalten. Wenn durch weitere Wärmezufuhr im Inneren des Fleischstückes höhere Temperaturen zum Tragen kommen, dann bilden auch die entwirrten Muskelproteinfäden Vernetzungen. Das Fleisch wird zäh. Je nach Fleischart liegt die Temperatur um 60°C, bei der das Eiweiß die Wasserbindefähigkeit und damit Saftigkeit behält.
Die praktische Empfehlung geht also dahin, das Steak lieber rechtzeitig aus der Pfanne zu nehmen und zwischen zwei tiefen Tellern oder im Backofen bei 60°C ruhen lassen.

Auch die Stärkemoleküle in Nudeln sind miteinander vernetzt. Beim Kochen lösen sich die Bindungen nach und nach. Die Struktur der Moleküle in der Nudel wird weitmaschiger, Wasser wird angelagert, die Stärke quillt. Bleibt die Nudel zu lange im Kochwasser, so wird sie matschig und von der Struktur her im Mund als unangenehm weich empfunden.
Der Praxis-Tipp „Nudeln al dente“ lautet: Nudeln „volles Rohr kochen, schnell und zackig garen“ (Vilgis, 2009).
Übrigens: Nach dem Kochen verkleben Nudeln gern wie „Multigeschwister“. Auch das lässt sich molekular erklären. Hier nur so viel, dass die Öl-Knoblauch-Variante physikalisch und kulinarisch dem entgegen wirkt.
Also - Öl oder Fett ins Nudelwasser bringt nichts! Es schwimmt an der Oberfläche und verhindert nicht das Zusammenkleben der Nudeln. Besser Nudeln nach dem Kochen leicht in Öl schwenken.


Innovation durch Molekularkochen

Agar-Agar
Agar-Agar ist ein relativ neues Geliermittel für uns. Eine indische Hausfrau brachte es mit nach England und von dort kam es dann auf das europäische Festland. Mit solch neuartigen Geliermitteln kann man andere Texturen, Strukturen und Eigenschaften erzeugen, die man beispielsweise mit Gelatine nicht erzielen kann. Gele aus Agar-Agar vertragen Temperaturen bis 80 °C. Wenn man z. B. ein Basilikumgel bei 20 °C (Zimmertemperatur) bzw. auf 80 °C erwärmt probiert, dann gibt es einen deutlichen Sprung in der Geschmackswahrnehmung. Gele mit Gelatine können nicht so hoch erhitzt werden.
Exakte Temperaturmessung und Gramm-genaues Abwiegen von Agar-Agar sind zweckmäßig, um ein gutes Gelergebnis zu erhalten.

Schokolade
Schokolade mit Chili oder Kochen mit Schokolade liegen voll im Trend. Es gibt aber auch eine wissenschaftliche Begründung.
Bei der Verwendung von Schokolade in salzigen Gerichten treffen zwei Sorten von Kristallen aufeinander. Kakaobutter schmilzt bei Temperaturen um 32 °C im Mund. Salz würde erst bei 800 °C schmelzen. Bei 32 °C löst es sich auf, wenn es mit Speichel in Berührung kommt. Durch diese unterschiedlichen Prozesse entsteht ein ganz neues Geschmackserlebnis: Die Kakaobutter schmilzt und über die Geschmacksrezeptoren werden die Bitterstoffe der Schokolade wahrgenommen. Danach kommen die Sensoren für das Salz zum Zuge. Diese Verzögerung der Geschmacksentfaltung stellt eine reizvolle Variante dar.

Schockschaum
Besonderheiten und sicher nicht in der Alltagsküche nachvollziehbar sind solche Extravaganzen wie gefrorene Frucht- und Gemüseschäume mit flüssigem Stickstoff.

Sehr hilfreich und interessant sind Anwendungen in der Senioren- und Krankenernährung. In der Smoothfood-Technik werden klassische Zubereitungsarten mit Techniken der Molekularküche verbunden und ermöglichen Nahrungsangebote unter erschwerten physischen bzw. physiologischen Bedingungen.


Fazit

Das Sprichwort „Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht“ gibt mit seiner abfälligen Tonart in punkto Molekularkochen dem Bedauern Ausdruck, dass man Geschmackserlebnisse versäumen könnte. Wenn Kochen zum Experiment wird, dann geht nicht nur Liebe durch den Magen, sondern altbewährte Methoden werden ergänzt durch neue Variationen und Geschmackserlebnisse werden erweitert.

Wer mehr wissen möchte, findet in den angegebenen Literaturhinweisen inspirierende Informationen.


Quellen und weitere Informationen
  • Thomas Vilgis: Die Molekül-Küche – Physik und Chemie des feinen Geschmacks, S. Hirzel Verlag Stuttgart 2006, 3. Auflage
  • Nina Wessely: Starkoch Ferran Adrià: Rückkehr an den Herd, im Internet unter derstandard.de (Zugriff 04.05.2022)
  • Maria Kiradi, Patrick Blume: Die Wissenschaft des guten Geschmacks, im Internet unter geo.de (Zugriff 04.05.2022)
  • Molekularküche, im Internet unter wikipedia.org (Zugriff 04.05.2022)
  • Thomas Vilgis: Wissenschaft al dente – Naturwissenschaftliche Wunder in der Küche, Verlag Herder Freiburg 2009, 3. Auflage
  • Carmen Jaspersen: Nudeln aus Geleekugeln helfen bei Schluckproblemen, im Internet unter welt.de (Zugriff 04.05.2022)
  • Markus Biedermann: Smoothfood - 5 Sterne für die Care Gastronomie. Innovationen in der Verpflegung von Menschen mit Dysphagie und Demenz, Vortrag im Rahmen der Online Veranstaltung DGE BW und AOK BW 09.11.2021 "Vorbeugen mit Genuss: Prävention in stationären Pflegeeinrichtungen durch angepasste Ernährung"

Weiterführende Hinweise:
  • Ralf Bos, Thomas Ruhl: Avantgarde – Molekularküche und andere progressive Kochtechniken. Ein Grundkurs, Fackelträger Verlag 2008
  • Albert Adrià, Ferran Adrià: Das wissenschaftliche Lexikon der Gastronomie – Das Grundlagenwerk der molekularen Küche, Verlag Hampp Stuttgart 2006
  • Thomas Vilgis: Molekularküche – das Kochbuch, Tre Torri Verlag, Wiesbaden 2007


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